Berlin-Film-Katalog (in Vorbereitung)

Rarität des Monats Juni 2015

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Vom 4.-10. Juni 2015 um 18 Uhr lief (genau fünfundzwanzig Jahre nachdem die Aufnahmen zu diesem Film entstanden waren)

 

Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990

DDR 1990 – 80 Min. (2124 m) – 35 mm (1:1,37) – Schwarzweiß
Regie: Petra Tschörtner. Buch: Petra Tschörtner, Jochen Wisotzki. Dramaturgie: Gerd Kroske. Kamera: Michael Lösche. Licht: Wolfgang Hirschke. Kameraassistent: Frank Bressler. Ton: Uwe Haußig. Mischton: Ulrich Fengler. Montage: Angelika Arnold.
Wir danken: Herbst in Peking, Johanna, Knattercarl, Frau Ziervogel geb. Konnopke, Charlotte, Friedel und Gerda, Leo, Wagenbreth und Fickelscherer, Frau Fischer, Treffmodelle, Tao und ihren Freunden, dem Prater und seinen Gästen, dem WC, Gitti, Ernst Cantzler, Mühle, Balkan-Tourist-Combo, Harald Hauswald, Sender Radio P., dem Franz Club, Kaufhaus GEWA, Torsten und der Knaack-Darmwäsche, Toni 0623, Trabantwerkstatt Graczyk, Hackepeter, Rattenpub, Klaus Pittsburg, Katzenoma u.v.a.
Ein Film des DEFA-Studios für Dokumentarfilme GmbH. Produktion: Fritz Hartthaler.

 

„Dit wird sowieso ’n Armenhaus hier!“ schimpft die Seniorchefin vom Konfektionskaufhaus GEWA am Bahnhof Schönhauser Allee. Harald Hauswald photographiert im Prater Fummeltrinen aus dem Westen und bereitet sich schon mal auf die Emigration vor, weil die Rechten im Kommen wären. Die Hausbesetzer in der Kastanienallee 86 richten sich auch auf weitere Angriffe von Faschisten ein. Beim VEB Treffmodelle, wo die Arbeiterinnen am Markt vorbei nähen müssen, braucht man die Vietnamesinnen nicht mehr und möchte sie als erste entlassen, alles andere würde zu Rassenhaß führen. Im Knaack-Club will man sich mit Disco selbst subventionieren. Wagenbreth und Fickelscherer begehen auf nächtlich leerer Straße nicht nur Sachbeschädigung, sondern auch Urheberrechtsverletzung. Mühle erzählt, wie er keinen Nationalpreis bekam, weil er sich zur Erholung gern mal in den Westen fahren ließ, um sich „einen Weiberarsch“ anzusehen. Er raucht im Wiener Café, auf der anderen Seite des Tisches stillt eine junge Mutter und niemand kriegt einen hysterischen Anfall. Westzigaretten werden sogar kostenlos verteilt.

Vor genau fünfundzwanzig Jahren sammelte Petra Tschörtner (1958-2012) ihre Impressionen in Prenzlauer Berg. Am Anfang ihres daraus montierten unprätentiösen und kommentarlosen Schwarzweißfilms singen Herbst in Peking auf dem ehemaligen Todesstreifen „We need a revolution“. Doch die ist schon vorbei und jetzt jammern nicht wenige Revolutionäre von gestern dem Vorgestern nach: „Weil ja nicht alles schlecht war.“ Ein halbes Jahr nach dem Sturz der SED-Diktatur wabert schon die Ostalgie um die bröckelnden Häuser und nicht zuletzt die rebellische Jugend flüchtet sich, statt weiter zu rebellieren, lieber trotzig in die letzten Nischen der DDR-Nischengesellschaft, welche der Kapitalismus noch nicht niedergewalzt hat, und mokiert sich über die viele Westreklame, als wenn die das Allerschlimmste wäre.

Und dann kommt sie, am 1. Juli, die Währungsunion, am Alex regiert fortan – wie es in der Tagesschau heißt – die Deutsche Bank, der kurze Sommer der Anarchie ist vorbei und die DDR ist es eigentlich auch. Waltraud Ziervogel von Konnopkes Imbiß segnet das erste eingenommene Westgeld.

Im Sommer 1990 ist der Prenzlauer Berg noch geprägt von Proletariern und der Alternativszene. Die vorherrschende Sprache ist Berlinisch, und wenn es Touristen gibt, dann fallen sie nicht weiter auf.

Wer glaubt, Berlin biete heute so viele Möglichkeiten zur Entfaltung und Selbstverwirklichung, hat diese Zeit nicht miterlebt oder sie vergessen: Dieser Film vermittelt eine Ahnung von Freiheiten und Freiräumen, von denen man nach Jahrzehnten neoliberaler Durchökonomisierung und Umerziehung der Gesellschaft nicht einmal mehr zu träumen wagt. Er macht deutlich, wie umfassend die Gentrifizierung und der Austausch der Bevölkerung in Prenzlauer Berg waren, und zeigt in jeder Hinsicht eine Welt, die fünfundzwanzig Jahre später fast vollständig verschwunden ist, obwohl die allermeisten Baulichkeiten noch existieren.

 

Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.

Sie haben unsere Aufführungen verpaßt oder möchten den Film noch einmal sehen? Er ist auf DVD im Handel erhältlich.

Weitere Informationen hier.

 

 

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J.G.

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Quellen der filmographischen Angaben: Filmformat, Filmlänge in Metern: http://www.filmportal.de/film/berlin-prenzlauer-berg-begegnungen-zwischen-dem-1-mai-und-dem-1-juli-1990_3d177b42cccc49708028d012a77cf2d2 (besucht am 20. Mai 2015). Alle anderen Angaben: Originalabspann.

Bilder: Salzgeber & Co. Medien GmbH.

 

 

 

Rarität des Monats Mai 2015

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Vom 11.-13. Mai 2015 um 18 Uhr (am 11. in Anwesenheit von Bernhard Sallmann) lief

 

Deutsche Dienststelle

D 1999 – 56 Min. – Beta SP (1:1,33) – Farbe
Regie: Bernhard Sallmann. Kamera: Susanne Schüle. Ton: Klaus Barm. Montage: Ulrich Sackenreuter.
Die MitarbeiterInnen: Marga Göthel, Margit Wankmüller, Petra Derkow, Andrea Peters, Ludwig Norz, Ihor Semczuk, Gerd Michael Dürre, Annegret Kremser, Christa Bilewski, Jutta Röhr.
Dank an: Deutsche Dienststelle (WASt), dogfilm.
Produktion: Strandfilm im Auftrag von ZDF/3sat. Redaktion: Inge Classen.

Uraufführung: 4. Dezember 1999, Berlin, Filmkunsthaus Babylon.
Erstausstrahlung: 12. Dezember 1999, 3sat.

 

Menschen am Kanal

D 1999 – 22 Min. (244 m) – 16 mm (1:1,37) – Farbe
Regie: Bernhard Sallmann. Kamera: Alexander Gheorghiu. Ton: Michael Pregler. Tonmischung: Klaus Barm. Schnitt: Matthias Constantini. Text: Egbert Lipowski.
Eine Produktion der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“, Potsdam Babelsberg. Produktion: Janek Plathe.

Uraufführung: 12. Juli 1999, Potsdam, HFF „Konrad Wolf“.

 

„Ich arbeite seit zwölf Jahren in der Luftwaffe", erklärt die ältere Frau. Doch hier geht es nicht etwa um die Karriere von Soldatinnen. Vielmehr ist die Formulierung ein Beispiel dafür, wie sich die Tätigkeit in der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“ auf die dort Beschäftigten auswirkt: Tag für Tag werden sie mit dem schlimmsten Abschnitt der jüngeren deutschen Geschichte und dessen unmittelbaren Folgen konfrontiert, bearbeiten Anfragen nach Dienstzeitbescheinigungen, der Klärung der Staatsangehörigkeit oder dem Verbleib Vermißter.

Bernhard Sallmann, Jahrgang 1967, seit Ende der achtziger Jahre in Berlin, hat 1996/1997 selbst fünfzehn Monate lang in der „Deutschen Dienststelle“ gearbeitet, die in Wittenau sinnigerweise in einer ehemaligen Waffenfabrik sitzt. Nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ war aus dem vormaligen Ostblock eine Menge neuen Materials in die Behörde gelangt und mußte erfaßt werden. Wozu auch ganz simple Tätigkeiten gehörten, wie Akten bzw. deren Daten abzutippen, damit sie elektronisch verwertbar wurden. Zugleich war auch die Zahl der Anfragen gestiegen, die die „Deutsche Dienststelle“ zu bearbeiten hatte – wobei es nicht nur um die Suche nach Vermißten oder nach Informationen über „Gefallene“ ging, sondern auch um Dienstzeitbescheinigungen für Rentenansprüche, die Klärung von Fragen der Staatsangehörigkeit und ähnliches. Die Behörde hatte daher in den neunziger Jahren auch besonders viele Mitarbeiter, die Rede ist von 550.

Bernhard Sallmann schrieb damals seine Diplomarbeit an der FU, wo er Publizistik, Germanistik und Soziologie studierte, und brauchte Geld für den Lebensunterhalt. Im Dateneintippen war er aber nicht schnell genug, was sich insofern als nützlich erwies, als er deshalb andernorts in der Behörde eingesetzt wurde, so noch anderes dort verwahrtes Material kennenlernte und einen tieferen Einblick in die Arbeit der „WASt“ bekam, wie die Einrichtung nach ihrem ursprünglichen Namen „Wehrmachtsauskunftsstelle“ noch immer abgekürzt genannt wird. Nachdem er dann sein Studium an der Potsdamer Filmhochschule begonnen hatte, kam ihm 1998 die Idee, einen Film zu drehen über die Tätigkeit der „Deutschen Dienststelle“ und über die Bedeutung der Dokumente, die sie hütet und auswertet.

Entstanden ist eine Dokumentation, wie sie mittlerweile Seltenheitswert besitzt, erst recht wenn es um den Nationalsozialismus und dessen Krieg geht: Sallmann bediente sich weder historischen Bildmaterials noch irgendwelcher Nachinszenierungen, wie sie dank der Knoppisierung des Dokumentarfilmgenres inzwischen leider üblich sind. Nüchtern registrierend wie die Akten in den endlosen Regalkilometern spürte er still, ohne verbalen Kommentar, der Atmosphäre des Ortes nach, dem Charakter der dort geleisteten Arbeit. Und indem er ganz in der Gegenwart blieb, machte er – nicht zuletzt am Beispiel einiger Mitarbeiter, die selbst von traumatischen Kriegserlebnissen oder dem Verlust von Verwandten berichteten – deutlich, welche Verheerungen die Nazis auch über Deutschland gebracht hatten und wie man sogar nach 55 Jahren noch immer damit beschäftigt war, das von ihnen verursachte Chaos und Leid zu bewältigen.

Mit dieser sechsunddreißigsten Präsentation einer Berlin-Film-Rarität des Monats im Brotfabrikkino möchte Berlin-Film-Katalog auch an den siebzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa erinnern. Ergänzt wird „Deutsche Dienststelle“ durch einen weiteren 1999 entstandenen Film von Bernhard Sallmann: „Menschen am Kanal“, einer kurzen Reflexion über den Teltowkanal zwischen Neukölln und Treptow, dessen Ostufer bis 1989 Todesstreifen war. Bald nach den Dreharbeiten wurde hier die Autobahn nach Schönefeld gebaut, welche die Stille dieses Ortes für immer beendete.

 

Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.

Weitere Informationen hier.

 

 

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J.G.

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Quellen der filmographischen Angaben: Produktionsjahre, Filmformat, Filmlänge, Datum und Ort der Uraufführung und Erstausstrahlung: Bernhard Sallmann. Alle anderen Angaben: Originalabspänne.

Bilder: Strandfilm.