Rarität des Monats August 2014
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 7.-13. August 2014 um 20 Uhr (am 11. August 2014 in Anwesenheit von Karin Schöning, Heinz Brinkmann und Jochen Wisotzki) lief
Komm in den Garten
DDR/D 1990 – 93 Min. (2555 m) – 35 mm (1:1,37) – Farbe
Regie, Buch: Heinz Brinkmann, Jochen Wisotzki. Schnitt: Karin Schöning. Ton: Ronald Gohlke, Ulrich Fengler. Kameraassistent: Frank Breßler. Kamera: Michael Lösche.
Produktion: DEFA-Studio für Dokumentarfilme GmbH (Produktionsleitung: Fritz Hartthaler).
Projektion einer 35-mm-Kinofilmkopie.
Der eine wollte einfach arbeiten, wenn er Lust hat, der andere nicht nur Parolen nachbeten, der Dritte verteidigte Salvador Allendes pluralistischen Sozialismus: Drei Männer aus Prenzlauer Berg, denen es ihrer Haltung wegen in der DDR schlecht erging und die dadurch dauerhaft aus der Bahn geworfen wurden. Kurz nach dem Ende der SED-Diktatur gedreht, schildert diese DEFA-Dokumentation vor allem die gegenwärtige Freundschaft der drei Männer, ihre Spannungen, ihre Solidarität. Die Vergangenheit kommt erst langsam ins Gespräch. Nicht jedes persönliche Problem wird sofort der Gesellschaft angelastet. Dennoch opponiert dieser weitgehend vergessene Film gegen die mittlerweile grassierende DDR-Nostalgie und die durch Gedächtnisschwäche beförderte Behauptung, es wäre doch alles gar nicht so schlimm gewesen und im doktrinären Sozialismus hätte sich jeder lustig und gemütlich einrichten können.
Unser Flyer zu diesem Film. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Vom Scheitern
Persönliche Anmerkungen zu „Komm in den Garten“
„Komm in den Garten“ wieder einmal zu zeigen, ist nicht nur an der Zeit, weil sich im Herbst 2014 die friedliche Revolution in der DDR zum fünfundzwanzigsten Male jährt.
Als ich in den siebziger und achtziger Jahren in West-Berlin aufwuchs, hörte ich ständig die – berechtigten – Klagen, wie verkorkst, unzureichend, unbefriedigend und eigentlich skandalös nach 1945 die NS-Verbrechen behandelt – ich will gar nicht von „bewältigt“ sprechen – worden seien. Bei jüngeren Leuten war diese Klage stets mit der Überzeugung verbunden gewesen, man selbst hätte es natürlich viel besser gemacht.
Ab 1990 bekamen sie – in einem wiedervereinten Deutschland, das ja vom Westen geprägt wird – die Gelegenheit dazu, mal zu zeigen, wie man die Verbrechen eines totalitären Systems „bewältigen“ kann – auch und gerade juristisch. Darunter schlimme Verbrechen, aber doch in einer viel geringeren Gesamtzahl als beim Nationalsozialismus, kein Krieg, keine Massenmorde, zu „bewältigen“ unter sehr viel komfortableren Bedingungen, in viel geordneteren Verhältnissen als unmittelbar nach 1945.
Und wieder kam letztendlich das gleiche heraus: Die einen wollten nur Befehle ausgeführt, die anderen die Befehle aber gar nicht so gemeint haben, jenen war nichts nachzuweisen, jedenfalls keine persönliche Verantwortung, diese waren zu krank, Prozesse wurden verschleppt – und überhaupt: Was einmal von Staats wegen für Recht erklärt worden war, konnte doch nicht plötzlich Unrecht gewesen sein! Die ganzen kleineren und kleinen Täter, aber auch viele aus der mittleren Befehlsebene, all die Mitläufer, Nur-ihre-Pflicht-Erfüller und willigen Vollstrecker, ohne die solche Systeme nie funktionieren, beziehen also bis heute ihre schönen Pensionen, derweil auch die Opfer der SED-Diktatur oft um Anerkennung und ein bißchen Geld kämpfen müssen – wirkliche Entschädigung für geraubtes Leben und geraubte Lebensmöglichkeiten kann es ja sowieso nicht geben.
Nach den Erfahrungen mit zwei Diktaturen kann man also eigentlich nur sagen: Wenn mal wieder so ein System in Deutschland entstehen sollte, sollte man sich diesem brav andienen und schön mitmachen – man wird erst in der Diktatur, und dann auch nach deren Ende komfortabler leben als jene, die so dumm waren, sich eigene Gedanken zu machen oder sogar aufmüpfig zu werden.
Und noch etwas erinnert mich an meine Jugend: Wie eine Diktatur nach einer gewissen Zeit – der Vergeßlichkeit und dem Hang des Menschen, sich vor allem an das Schöne zu erinnern, sei Dank – als gar nicht mehr so schlimm erscheint, als erträglich, wenn nicht sogar ganz angenehm. Nach fünfundzwanzig Jahren ist es, wie ich immer öfter auch den Medien entnehmen kann, nun auch mit der DDR so weit – eigentlich habe man dort doch recht schön leben können, so ruhig vor allem, man habe viel Spaß gehabt und die Obrigkeit habe sowieso niemand ernst genommen.
Daraus schließe ich, daß es offenbar keinerlei Mutes bedurft hat, im Oktober 1989 gegen diese Obrigkeit auf die Straße zu gehen. Und vor allem meint dieses „Es war ja alles gar nicht so schlimm“: Wer sich mit diesem doch eigentlich ganz pflegeleichten Unterdrückungssystem angelegt hat, war selbst schuld. Auch das ein bekanntes Muster: Die Opfer sind schuld. Wie konnten sie anderen zumuten, sich an ihnen die Finger schmutzig zu machen? Und nun sollen die Opfer mal bitte nicht länger herumnerven und uns beim Schwelgen in Nostalgie stören, sondern sich schön aussöhnen, und gut ist.
Wobei, auch das wird gern unterschlagen oder einfach vergessen, insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR, gar nicht so viele wirkliche Feinde des Systems in dessen Mühlen gerieten – sondern dieses System mit besonderem Eifer und absurdem Aufwand vor allem jene überwachte, verfolgte, aus dem Land trieb, die den Sozialismus überhaupt nicht beseitigen, sondern im Gegenteil verbessern wollten, durch konstruktive Kritik, neue Ideen, offene Diskussionen.
An all dies erinnert „Komm in den Garten“, der mir deshalb heute als hervorragendes Mittel gegen die inzwischen um sich greifende Nostalgieseligkeit und Verharmlosung erscheint. Dies um so mehr, als der Film nicht etwa von bösen Wessis gemacht wurde – von denen manche tatsächlich abenteuerliche Vorstellungen von den Verhältnissen in der DDR hatten, und eigentlich werden auch diese Vorstellungen mit der Zeit immer abenteuerlicher –, sondern von DDR-Bürgern. Als ein gutes Beispiel dafür, was bei der DEFA seit langem möglich gewesen wäre, wenn es denn die Obrigkeit erlaubt hätte, sah den Film wohl auch die Jury des Leipziger Dokumentarfilmfestivals im Herbst 1990, wo er mit einer Silbernen Taube ausgezeichnet wurde.
Auch gab es viele positive Kritiken, wobei Knut Hickethier in seiner Besprechung in „epd Film“ sehr schön beschrieb: Daß hier drei Männer über ihr Scheitern in einer Gesellschaft sprechen, die selbst gescheitert ist, verleiht ihnen die Aura der Stärkeren, ohne daß sie sich selbst so fühlen.
Ich finde, das trifft auch die Haltung des Films gut, an dem mir eben auch gefällt, daß er nicht in erster Linie ein „Vergangenheitsbewältigungsfilm“ ist: Im Mittelpunkt steht das damals gegenwärtige Leben der drei portraitierten Männer aus Prenzlauer Berg, ihre Freundschaft, ihre Spannungen, ihre Solidarität. Und nicht jedes ihrer Probleme wird der Gesellschaft angelastet. Dennoch habe ich mir schon damals, beim ersten Sehen vor fünfundzwanzig Jahren, immer die Frage gestellt, was aus den Dreien in einem anderen System geworden wäre – ohne dabei in die schönsten Phantasien und in Jubel zu verfallen, denn natürlich gibt es auch im westlichen System jede Menge Möglichkeiten zu scheitern, und zwar auch systembedingte.
Als Berlin-Film ist „Komm in den Garten“ inzwischen auch deshalb interessant, weil er Prenzlauer Berg in noch unsaniertem Zustand zeigt, damit auch noch als ein Refugium für Ausgestiegene und Ausgestoßene. Inzwischen kann man sich das ja, dank durchgreifender Gentrifizierung samt weitgehender Vertreibung der früheren Bevölkerung, kaum mehr vorstellen. Doch das ist ein anderes Thema, ebenso wie der Umstand, daß man heute an der Schönhauser Allee den Zugang zur S-Bahn suchen muß.
J.G.
Quellen der filmographischen Angaben: http://www.filmportal.de/film/komm-in-den-garten_587d4191ecd8403cbe402df93e7f1b87 (besucht am 21.7.2014; Filmlänge, Filmformat), Originalabspann (alle weiteren Angaben).
Bilder: DEFA-Stiftung/Michael Lösche, DEFA-Stiftung/Frank Breßler.
Rarität des Monats Juli 2014
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 10.-13. Juli 2014 um 21.30 Uhr sowie am 14. Juli 2014 um 19.30 Uhr lief
Lola und Bilidikid
D 1997/1998 – 91 Min. (2490 m) – 35 mm (1:1,85) – Farbe
Regie, Buch: Kutluğ Ataman. Musik: Arpad Bondy. Production Design: John di Minico. Schnitt: Ewa J. Lind. Kamera: Chris Squires. Executive Producer: James Schamus. Coproduzenten: Martin Wiebel, Zeynep Özbatur. Produzent: Martin Hagemann. Associate Producer: Mary Jane Skalski. Drehbuchberatung: Jean Castelli. Regieassistenz: Tanja Däberitz. Script/Continuity: Numi Teusch. Dialogtraining: Ela Gürmen. Probenkoordination: Sema Poyraz. Drehbuchübersetzung: Jona Bauer. Beratung türkische Dialoge: Yildirim Türker. Regiepraktikantin: Uta Seibicke. Casting Deutschland: Annette Borgmann, Cornelia Partmann. Casting Türkei: Yüzler Sesler, Elif Esin Çokünal. Bauchtanzchoreographie: Hakan Tandoğan. Bauchtanzunterricht Istanbul: Ömer Yilmaz. Beratung Transvestiten: Ceyhan Firat. Stunts: Piet Paes, Buff Connection. Kameraassistenz: Dirk-Martin Heinzelmann. Materialassistenz: Sandra Lacaze. Kamerapraktikant: Ole Mienert. Standphotographie: Christa Köfer. Tonmeister: Axel Arft. Tonassistenz: Michael Junge, Juri Gregan, Frank Massholder. Art Director: Mona Kino. Außenrequisite: Martin Schiemann. Innenrequisite: Katharina Birkenfeld. Storyboard: Andreas Ammann. Architekturmodell: Thomas Arnold. Ausstattungsassistenz: Ina Schrimpf. Requisitenfahrer: Sebastian Wurm. Baubühne: Otu Tetteh, Mathias Nitschke, Markus Leuwer, Joao Gonzaga-Silveira, Anselm Breig, Alexander Liebenthron. Kostümbild: Ulla Gothe. Kostümbildassistenz: Ines Fritscher. Garderobe: Najad Kirchberger, Vanessa von Klier. Chef-Maskenbildner: Axel Zornow. Maskenbildnerin: Xenia Eichholz. Maskenbildassistenz: Ferda Eğritağ. Oberbeleuchter: Ronny Schwarz. Beleuchter: Armin Bach, Frank Zschieschow, Rainer Böhm, Wolfdieter Stöcker, Peter Rabe. Drehbühne: Paul Freuer, Harald Gliesche. Produktionsleitung: Markus Bensch. 1. Aufnahmeleitung: Sabine Schulmeyer. 2. Aufnahmeleitung: Klaus Große Darrelmann. Produktionskoordination: Claudia Spiller. Bürokoordination: Gabriele Lins. Produktionsassistenz: Axel Eichhorst. Filmgeschäftsführung: Ines Wagner. Zusätzliche Motivsuche: Ede Müller. Zusätzliche Motivphotos: Ali Ghandtschi. Produktionsfahrer: Mido Jasper, George Gysi, Yves Krol. Produktionspraktikanten: Roman Avianus, Gundula Engler, Matthias Reischel, Claudia Rhein. Catering: Sarah Wiener’s Tracking Catering, „Törtl“ Torsten Bache, Gunnar Spies, Torsten Minak. Hundetrainer: Michael Schweuneke. Absperrungen: Bloc.inc. SFX: Nefzer-Babelsberg GmbH, Roland Tropp Pyrotechnik, Atlantis SFX, Adolf Wojtinek. Tondesign: Wolf Ingo Römer. Schnittassistenz: Alida Babel. Schnittpraktikantin: Hülya Turhan. Dialogschnitt: Elke Weißer. Dialogschnittassistenz: Andrea Werner. Tonschnittassistenz: Sonja Petkova. Geräuschsynchron: Meloton Soundeffects Studios. Geräuschemacher: Mel Kutbay, Hans-Walter Kramski. Sprachsynchron: Synchronproduktion Studio Babelsberg GmbH. Synchronregie: Jürgen Wilhelm. Synchronton: Henning Thölert. Synchronschnitt: Mark Meier. Mischstudio: Ruhr Sound Studios. Mischmeister: Martin Steyer. Titeldesign: Robert Dawson. Titelanfertigung: Cinema Research Corporation. Untertitel: Film und Videountertitelung GmbH, Gerhard Lehmann. Übersetzung Untertitel: Ela Gürmen, Françoise Monier, Jackie Sykes, Michael Tighe, Katharina Wagner. Koordination Endbearbeitung: Claudia Spiller. Produktionspresse: Wolfgang W. Werner. Video Dreharbeiten: Horst Markgraf. Videoassistenz: Pia Marais. Soundtrack: Solistin Viola: Sabrina Briscik. Solist Gitarre: Thomas Dudek. Solist Oboe: Matthias Fischer. Solist Cello: Thilo Krigar. Dirigent: Achim Rothe. Es spielt das Orchester Sherry Bertram. Musikproduktion: Powerplay Tonstudio Berlin. Toningenieur: Marc Elsner. Tontransfer: Kortwich. Kodierung: Moviecode. Kamera und Licht: FGV Schmidle GmbH. Kopierwerk: Geyer Werke Berlin.
Darsteller: Baki Davrak, Gandi Mukli, Erdal Yıldız, Michael Gerber, Murat Yilmaz, Inge Keller, Hakan Tandoğan, Cihangir Gümüştürkmen, Celal Perk, Mesut Ozdemir, Ulrich Simontowitz, Hasan Ali Mete, Willi Herren, Mario Irrek, Jan Andres, Hatice Tolgay, Lisa, Nisa Yildirim, Aykut Kayacik, Gundula Petrovska, Katharina Voss, Isabell Wernitz, Madeleine Bommert, Sabine Winterfeldt, Aziza-A, Ursula Staack, Andreas Leupold, Andreas Kruse, Carla Hagemann, Mohammed Herzog, Erden Alkan, Axel Pape.
Erstverleih: Delphi.
Erstaufführung: 12. Februar 1999, Berlin (Internationale Filmfestspiele, Panorama).
Wir zeigen die deutsche Fassung.
Türkische Transen? In Berlin? So wurde erstaunt gefragt, als der türkischstämmige Regisseur und Drehbuchautor Kutluğ Ataman – 2014 mit „Kuzu (The Lamb)“ wieder im Panorama der Berlinale vertreten gewesen – 1997 in der Hauptstadt diesen Film drehte. Das recht ereignisreiche Drama um einen türkischen Berliner Teenager, der nicht nur seine Homosexualität, sondern auch ein finsteres Familiengeheimnis entdeckt, zeigte Seiten und Szenen der Stadt, die vielen Einheimischen kaum oder überhaupt nicht bekannt waren: türkischstämmige Transsexuelle, Transvestiten, Schwule, Stricher und ihren Kampf um Liebe und Glück oder auch einfach um das nackte Überleben. Mit dabei: Inge Keller als ziemlich zickige, mit Standesdünkel behaftete Mutter aus Wannsee.
Nach seiner Uraufführung auf der Berlinale 1999 wurde „Lola und Bilidikid“ als einer von mehreren deutschen Filmen wahrgenommen, mit denen junge Regisseure mit anatolischem Hintergrund damals an die Öffentlichkeit traten – darunter „Kurz und schmerzlos“ von Fatih Akin, „Kardeşler – Geschwister“ von Thomas Arslan, „Aprilkinder“ von Yüksel Yavuz oder „Yara“ von Yilmaz Arslan. Kutluğ Ataman freilich besaß kaum große Bindungen an Deutschland, und daß „Lola und Bilidikid“ schließlich in der „größten türkischen Stadt außerhalb der Türkei“ angesiedelt wurde, war das Ergebnis einer längeren Entwicklung des Projekts. Dazu bei trug ein Berlin-Aufenthalt Atamans, bei welchem dem Künstler die Stadt mit ihrer bewegten Geschichte und Gegenwart als idealer Handlungsort und aufregender Schauplatz erschien.
So gelang ihm ein Werk, das schon seinerzeit beschrieben wurde: „Ein Mikrokosmos tanzender und taumelnder Gene, verwirrter und verirrter Gefühle, reflektiert und fokussiert im Spiegel der Großstadt, dem Moloch Berlin am Ende der ketzerischen neunziger Jahre.“ (boe, Die Welt, 11. März 1999) Fünfzehn Jahre später ist der zwischenzeitlich ein wenig in Vergessenheit geratene Film erst recht ein interessantes Zeitdokument jener heute so frei und voller Möglichkeiten anmutenden Jahre zwischen Mauerfall und Hauptstadt- und Tourismusboom.
Unser Flyer zu diesem Film. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Weitere Informationen hier.
Deutsch-türkisches Coming out
Drehort Berlin: In „Lola und Bilidikid“ entdeckt ein 17jähriger Türke seine Homosexualität und die türkische Schwulenszene an der Spree
„Verpißt euch und geht zurück in den Puff, wo ihr hingehört!“ Was dann folgt, verstehen wir leider nicht, denn des weiteren keifen sich die Transvestiten auf türkisch an. Zum Glück ist der Konflikt kein echter und die mit der Leuchtschrift „Bar“ versehene Tür, vor der er sich abspielt, in Wahrheit der Hintereingang der Volksbühne. Dort drehte kürzlich in eisiger Novembernacht Kutluğ Ataman eine Szene seines Films „Lola und Bilidikid“, der ein in jeder Hinsicht ungewöhnliches Projekt ist: Ein Regisseur aus Istanbul, der lange Jahre in Los Angeles gelebt hat, dreht an der Spree einen Film über einen 17jährigen Berliner Türken, der seine Homosexualität entdeckt und in die türkische Transvestiten- und Stricherszene der Hauptstadt eintaucht.
„Ursprünglich war die Story an keinen bestimmten Ort gebunden und sollte auch gar nicht zum Film werden“, erzählt Ataman, der auch das Drehbuch schrieb. Erst bei einem längeren Aufenthalt in Berlin erschien ihm die Stadt mit ihrer bewegten Historie und zerrissenen Gegenwart als idealer Handlungsort und aufregender Schauplatz. Zudem seien, nachdem das Militär 1980 in der Türkei wieder einmal geputscht hatte, gerade in die damalige Mauerstadt viele Transvestiten geflüchtet. Inzwischen habe sich die Szene natürlich weiterentwickelt, manche ihrer Akteure wirken in dem Film mit. Und auch mit weiteren Vorurteilen räumt Ataman auf: Daß der Streifen in der Türkei Ärger mit der Zensur bekommen könnte, fürchtet er nicht, auch wenn er sagt: „Offiziell gibt es Homosexualität in der Türkei nicht.“ Darsteller für „so einen“ Film zu finden, habe keine Probleme bereitet.
Freilich: Der Hauptdarsteller Baki Davrak, dessen erste große Filmrolle dies ist, ist keine siebzehn mehr, sondern fast zehn Jahre älter. Und die auch bei deutschen Akteuren beliebte Distanzierungsorgie („Ich bin aber nicht schwul, ich habe das nur gespielt“) kann er sich schenken: Er wird gerade Vater. Eine Rolle, die einem in mancher Hinsicht ein bißchen fern liegt, koste natürlich einiges an Arbeit, meint der im Schwarzwald geborene und aufgewachsene Davrak, der seit fünf Jahren in Berlin lebt. Daß er statt des Slang vieler hiesiger Türken ein lupenreines Hochdeutsch spricht, macht wenig: Im Film redet er nicht viel.
Überhaupt: die Sprache. Das Original-Drehbuch ist in englisch geschrieben, und da die 2,5 Millionen-DM-Produktion auf den internationalen Markt setzt, wird auch die Originalfassung in dieser Sprache sein. Für den deutschen und den türkischen Markt sollen Synchronfassungen mit untertitelten Passagen hergestellt werden. Noch bis in den Dezember hinein wird „Lola und Bilidikid“ gedreht, Mitte nächsten Jahres soll er in unsere Kinos kommen.
Jan Gympel
(Drehbericht, geschrieben im Herbst 1997)
Quellen der filmographischen Angaben: http://www.filmportal.de/film/lola-und-bilidikid_be030b2c3f964ab3aa8635b4e37fb0f8 (besucht am 24.6.2014; Filmlänge, Filmformat, Angaben zur Erstaufführung), Originalvor- und -abspann (alle weiteren Angaben).
Bilder: DCM Film Distribution.