Rarität des Monats Februar 2015
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 9.-11. Februar 2015 um 19.30 Uhr sowie vom 12.-15. Februar 2015 um 18 Uhr (am 9. mit Vorstellung der DVD, einer kurzen EInführung und Vorführung auch des ursprünglichen Filmendes) lief
Flucht nach Berlin
BRD 1960/1961 – 104 Min. (2838 m) – 35 mm – Schwarzweiß
Regie, Buch, Schnitt: Will Tremper. Kamera: Günter Haase, Gerard Bonin. Technik: Erich Hanschick, Sigfried Partou, Helmut Rautenberg. Ton: Otto Mechnig. Regieassistent: Bob Ausboeck. Script: Celia M. Zentner. Produktionsassistenz: P.W. Schünemann. Aufnahmeleitung: Jo Sell. Schnittassistenz: Ulivelli - Dayan. Musik: Peter Thomas. Nina Westen singt „High Snobiety“.
Darsteller: Susanne Korda, Christian Doermer, Narciss Sokatscheff (synchronisiert von Horst Niendorf), Charlotte Walter, Gerda Blisse, Inge Drexel, Gerda Harnack, Margret Rose Keil, Helma Vandenberg, Beate Hasenau, Karl Meixner, Ralf Gregan, Wittigo Graf Einsiedel, Willi Entresser, Erich Hanschick, Otto Hagelstein, Curt Auls, Egbert Hoyer, R.W. Timm, Anton Herbert, Mike Dewey, Gert Kollat, Günter Pape, Axel Kubitzky, Manfred Schäffer, Fritz M. Salus, Artur Schilsky, P.W. Schünemann, Karl-Günther Nöring, Max Strassberg, Michael Reinhardt, Reinhold Eisel, James Wakefield Burke, Hermann Molkenbuhr, Michael Schumann, Harry Hilt.
Produktion: Will-Tremper-Produktion in Zusammenarbeit mit der Stun-Film und Co. und Michael K. Schwabacher. Produktionsleitung: Heinz Karchow.
Erstverleih: Constantin.
Projektion der digital restaurierten Fassung (DCP).
Berlin galt als Kassengift und die bundesdeutsche Filmindustrie befand sich im Sinkflug, als der prominente Journalist Will Tremper (1928-1998) kurz vor dem Mauerbau seinen ersten Film drehte. Mit wenig Geld und viel Enthusiasmus schuf der Drehbuchautor von „Die Halbstarken“ ein Actiondrama um zwei parallel verlaufende Fluchten aus einem DDR-Dorf nach Berlin: Ein Bauer, der sich gegen den Zwangsbeitritt zur LPG wehrt, will nach West-Berlin, wobei eine über die Transitautobahn reisende Schweizerin seine unfreiwillige Begleiterin wird. Ein fanatischer junger Funktionär, dem seine Genossen die Schuld an der Flucht des Bauern in die Schuhe schieben, will nach Ost-Berlin, um seine Rehabilitierung zu erwirken. Wirklichkeitsnah, außerhalb der Ateliers und der gesamten verknöcherten Filmindustrie entstanden, ist „Flucht nach Berlin“ eines der ersten Werke des „Jungen deutschen Films“ der Sixties. Für die Musik erhielt Peter Thomas, der damals noch ganz am Anfang seiner großen Karriere stand, einen Bundesfilmpreis (ebenso wie Christian Doermer als bester Nachwuchsdarsteller), derweil dem Streifen selbst diese Ehrung verwehrt blieb – wohl wegen einiger spöttischer Spitzen gegen das Leben und das Verhalten im Westen, derentwegen der Verleih auch das ursprüngliche Finale entfernte. Wir zeigen „Flucht nach Berlin“ in der frisch digital restaurierten Fassung, in welcher der Film demnächst auch erstmals auf DVD vorliegt.
Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Weitere Informationen hier.
Sie haben unsere Aufführungen verpaßt? Schade, aber zum Glück ist der Film in der restaurierten Fassung demnächst auf DVD verfügbar. Bonusmaterial unter anderem: das ursprüngliche Filmende, der Originaltrailer sowie ein kürzeres Gespräch mit Peter Thomas und ein längeres mit Christian Doermer.
Aus der Pressemappe des Constantin-Filmverleihs (1961)
Es ist eine Tatsache, daß von den rund 1200 bundesdeutschen Filmen, die in den letzten zehn Jahren hergestellt wurden, sich nicht mehr als drei, d.h. 0,25 %, mit dem drängendsten Thema und Problem unserer Gegenwart, der Spaltung Deutschlands, beschäftigen, also fast so viel wie Null! Im Osten dagegen behandeln von den 151 Filmen, die die DEFA im gleichen Zeitraum produzierte, immerhin 21, das sind nahezu 14 %, den Stoff der Grenze zwischen hüben und drüben. (…) Das wesentliche Verdienst des Filmes („Flucht nach Berlin“, Anm.) ist es vielleicht aber, daß er seinem Publikum nicht nur einen sehr fesselnden „Reißer“ bietet, sondern auch eine geradezu umwerfend unbefangene Schilderung von Ostzonen-Zuständen. Wenn man in Rechnung zieht, wie einesteils ost- und westdeutsche Gehirne durch Propaganda-Klischees verkleistert sind und anderenteils frühere Filmversuche in dieser Richtung durch verbissene Polemik oder sentimentales Pathos störend belastet waren, empfindet man Trempers dokumentarische Sprache wie eine Erlösung. Er selbst meint mit dem ihm eigenen Maß an Sarkasmus: „Ich will ein bißchen notwendigen Erdkunde-Unterricht geben. Heutzutage weiß doch jeder Bundesbürger mehr über den Kongo als über die Zustände in der DDR.“
Aus der am 9. Februar 2015 im Brotfabrikkino gehaltenen Einführung
„Flucht nach Berlin“ war der erste Film, den Will Tremper nicht nur schrieb, sondern auch inszenierte und produzierte. Tremper, 1928 geboren in Braubach am Rhein, war damals – 1960 – schon einer der prominentesten Journalisten Deutschlands, und eigentlich hatte er immer zum Film gewollt. Aber: Wie macht man das, wenn man aus Braubach kommt, einer Kleinstadt nördlich von Koblenz? Er begann zunächst eine Ausbildung als Photograph, ging zur Zeitung und wurde „Bildberichterstatter“, wie das damals hieß. Schon mit fünfzehn deichselte er es auch, nach Berlin zu kommen, 1943, und sein Leben lang sollte er ein begeisterter Wahl-Berliner bleiben – weshalb dann auch fast all seine Filme mit der Stadt zu tun haben. Begünstigt durch den Krieg und seine Folgen wurde Tremper Ende September 1945, gerade siebzehnjährig, mit der ersten Ausgabe des Blattes erster Polizeireporter des Berliner „Tagesspiegels“.
Einige Jahre später heuerte er als Assistent und auch Ghostwriter bei Curt Riess an, der wohl Trempers wichtigster Lehrmeister war, was man merkt, wenn man den Stil der beiden miteinander vergleicht. Seine Erfahrungen mit diesem Schnell- und Vielschreiber, Autor für viele Illustrierten und zahlreicher Bücher, verarbeitete er dann 1958 im Drehbuch zu dem Spielfilm „Nasser Asphalt“.
1955, nach der Trennung von Riess, wurde Tremper von Wolfgang Menge, der damals Redakteur bei der noch der Familie Ullstein gehörenden „BZ“ war, an Wenzel Lüdecke vermittelt, der mit der Synchronisation fremdsprachiger Filme zu Geld gekommen war und sich nun als junger Filmproduzent versuchen wollte. So entstanden, von Tremper geschrieben und von Georg Tressler inszeniert, „Die Halbstarken“ und „Endstation Liebe“ – letzterer ebenfalls mit Horst Buchholz in der männlichen Hauptrolle, nicht so berühmt geworden wie „Die Halbstarken“, aber meiner Meinung nach der bessere Film. Nicht zufällig haben wir unsere Reihe mit Berlin-Film-Raritäten im Juni 2012 mit dieser unspektakulären Liebes- und – wie man heute neudeutsch sagen würde – „Coming of Age“-Geschichte aus dem Berliner Arbeitermilieu begonnen.
All die Jahre über, in denen Will Tremper Filme schrieb, dann auch inszenierte und produzierte – was bis 1970 geschah –, arbeitete er weiterhin auch als Journalist – das war schon deshalb notwendig, weil er Streifen wie 1962/63 „Die endlose Nacht“ und 1965/66 „Playgirl“ auch mit dem Geld, das er vor allem bei Illustrierten und Boulevardzeitungen verdiente, finanzierte. Ende der fünfziger Jahre erregte er Aufsehen mit der Serie „Deutschland, deine Sternchen“, die über ein Jahr lang im „Stern“ lief – das Blatt war damals eine bedeutende, vielbeachtete Illustrierte mit hoher Auflage. „Deutschland, deine Sternchen“, wo es um Film- und andere Sternchen ging, erschien zwar unter dem Pseudonym „Petronius“, aber es war rasch bekannt, daß sich Tremper dahinter verbarg.
Tremper, der leider schon 1998, kurz nach seinem siebzigsten Geburtstag, gestorben ist, war ein brillanter Geschichtenerzähler. Ich kann daher sein Buch „Große Klappe“, seine Memoiren über die sechziger Jahre, nur empfehlen. Und ich kann aus dem Kinemathek-Heft zitieren, das ich zur ersten Tremper-Retrospektive überhaupt, die 1993 im Berliner Kino Arsenal stattfand, verfaßt habe. Tremper erzählte mir 1990 zur Entstehung von „Flucht nach Berlin“: „[Henri] Nannen war ein Roman geplatzt und er fragte mich, ob ich bis zum nächsten Tag den Anfang eines neuen schreiben könnte. Ich hab angefangen, erstmal in den Zeitungen zu stöbern, las lauter Nachrichten übers ‚Bauernlegen’, die Zwangskollektivierung in der DDR, und schrieb den Anfang eines Romas, ‚Flucht nach Berlin’. Der gefiel Nannen, nur der Titel gefiel ihm nicht. Er hat ihn genannt ‚Komm mit nach Berlin – Der Roman einer Flucht’. (...) Und dann traf ich einen, der mich auf ‚Deutschland, deine Sternchen’ ansprach, diese Skandalserie. Ein Filmfan, Verrückter, Schweizer, der meine Frau kannte aus New York, wo sie früher gearbeitet hatte, und hörte, daß sie mit dem Tremper vom ‚Stern’ verheiratet wäre. Der [Michael K. Schwabacher war sein Name] schmiß sich an mich heran, hat uns in Hamburg besucht, was mir fürchterlich auf den Wecker fiel. ‚Haben Sie denn keine Angst, von dieser Branche verklagt zu werden?’ fragte er mich. Ich sagte: ‚Wir haben lauter Prozesse am Hals.’ Die wir übrigens alle gewonnen haben. ‚Naja’, sagte er dann, ‚wenn Sie das immer so arrogant schreiben, können Sie’s denn besser?’ – ‚Natürlich kann ich das besser, dazu gehört ja wohl nicht viel, bessere Filme zu drehen als das, was die da machen.’ – ‚Naja, was kann das denn kosten?’ Ich sagte: ‚’ne halbe Million braucht man schon.’ Soviel hatten DIE HALBSTARKEN gekostet, genau wußte ich es nicht. Da nahm er sein Scheckbuch raus, schrieb was rein, riß es heraus, gab mir den Scheck und sagte: ‚Rufen Sie mich an, wenn der Film fertig ist!’ Stand: ‚Chase Manhattan Bank, $ 100.000’, der Dollar war bei 4,17 DM. Naja. Ich hab das natürlich nicht ernstgenommen.“
Aber Trempers Frau hat es getan. Sie hat den Scheck eingelöst, dieser erwies sich als gedeckt, also sah sich Tremper genötigt, einen Film zu drehen. Er „haschte nach der Gelegenheit, holterdiepolter einen Jugendtraum zu verwirklichen“, wie er in „Große Klappe“ schrieb, und adaptierte dann einfach seinen Illustriertenroman, nachdem er im Berliner Parkhotel Zellermeyer einen Barkeeper kennengelernt hatte, der aus Finsterwalde geflüchtet war – und nach ihm viele seiner Freunde und Bekannten.
Ende der fünfziger Jahre schwoll ja der Flüchtlingsstrom aus der DDR wieder an, die Kollektivierung der Landwirtschaft spielte dabei eine Rolle. Die kurz nach 1945 durchgeführte Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone funktioniert bei manchen Menschen ja noch heute als Propagandaschlager der SED: „Junkerland in Bauernhand“, da hätten die Sowjets und ihre deutschen Genossen doch etwas Gutes getan. Allerdings war die Zerschlagung der Güter ökonomisch damals schon ziemlicher Unfug gewesen, und der Propagandaerfolg der allerersten Nachkriegszeit rächte sich in den fünfziger Jahren, als mühsam und mit viel Druck die ganzen kleinen, gerade eben entstandenen bäuerlichen Betriebe wieder zu großen, eben den „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften“, zusammengefügt werden sollten. Wobei natürlich auch ideologische Gründe eine Rolle spielten.
Als Tremper „Flucht nach Berlin“ vorbereitete, erinnerte er sich Christian Doermers, der ja eine wichtige, wenngleich neben Horst Buchholz und Karin Baal weniger beachtete Rolle in „Die Halbstarken“ gespielt hatte. In Doermers Part in „Flucht nach Berlin“ sah Tremper auch seine eigene Vergangenheit als begeisterter Hitler-Junge wiedergegeben. Für die weibliche Hauptrolle engagierte er Susanne Korda, eigentlich Susanne Kraetzsch, die damals Frischangetraute von Alexander Kerst. Und für die zweite männliche Hauptrolle, die des flüchtenden Bauern, seinen Bekannten Narciss Sokatscheff. Tremper 1990 über ihn, in erwähntem Kinemathek-Heft: „Einer, mit dem ich gerade was zu tun hatte, der mir Geschichten erzählte über Gründgens in der Nazizeit. Der war als hübscher Junge bei einem Gastspiel des Preußischen Staatstheaters in Sofia von Gründgens mitgenommen worden nach Berlin, lebte ’ne Zeitlang mit ihm, wurde dann Schauspieler, geisterte die ganzen Nachkriegsjahre hier so rum. (...) Also das waren meine drei Hauptdarsteller, mit denen fing ich am nächsten Morgen an zu drehen, auf der Pfaueninsel im Schilf. Und schrieb dann hinterher immer das Drehbuch, nach dem, was ich gerade gedreht hatte.“ Seines Akzents wegen wurde Sokatscheff später nachsynchronisiert von Horst Niendorf.
Gedreht wurde – natürlich – in West-Berlin, aber auch im hessischen Zonenrandgebiet, wo Tremper allerdings erlebte, was auch andere erleben mußten, die im Westen gegen den Osten gerichtete Filme machen wollten: Von wegen „überall kalte Krieger, damals im Westen“ – in Wahrheit stieß man auf lauter Bürgermeister, Bauern, und andere Bewohner, die Angst hatten, was geschehen würde, wenn die Russen kämen oder wenigstens die NVA und dann herauskäme, daß sie an einem solchen Film mitgewirkt hätten. Wie Tremper, der aus einer protestantischen Enklave im Rheinland stammte, beschämt feststellte, war man in den evangelischen Dörfern besonders ängstlich. In Wölf bei Bad Hersfeld, einem katholischen Ort, fand man hingegen Unterstützung, allen voran beim Pfarrer, der auch erklärt haben soll, nicht nur die Mitwirkung an dem Film sei Christenpflicht, sondern dies dürfe auch sonn- und feiertags geschehen – der Kampf gegen den Kommunismus rechtfertige diese Ausnahme.
Probleme soll es dann beim Dreh auch zwischen Tremper und Christian Doermer gegeben haben – der Schauspieler erschien dem Regisseur als zu eigensinnig, wollte nach dessen Worten dauernd am Set über seine Rolle diskutieren, was Tremper nicht nur grundsätzlich auf die Nerven ging, sondern natürlich zu Verzögerungen führte und damit Geld kostete. Noch schlimmer soll es zwischen Tremper und dem Chefkameramann Günter Haase gekracht haben: Letzterer ging nach einem Streit mit Tremper, der sogar zu Handgreiflichkeiten führte, und selbiger führte die Kamera selbst, hatte aber Probleme mit der richtigen Belichtung. Also drehte er einfach von jeder Einstellung drei Takes mit unterschiedlichen Blenden – und mußte jene nehmen, die am besten belichtet war.
Während des Drehs hatte Tremper – der natürlich auch stets ein guter PR-Mann in eigener Sache war – verkündet, die Uraufführung von „Flucht nach Berlin“ solle gleichzeitig in Berlin und New York stattfinden. Es wurde dann, sehr viel weniger glamourös, Hannover – im März 1961, also noch vor dem Mauerbau.
Tremper hatte gedacht, ein Film zu einem solchen brandaktuellen Thema müßte, zumal wenn effektvoll genug gemacht, fast automatisch ein Kassenerfolg werden. Überhaupt hatte er sich gefragt, weshalb das Thema der deutschen Teilung und der Flucht aus der DDR von der westdeutschen Spielfilmproduktion derart vernachlässigt worden war: In der Adenauer-Ära waren kaum entsprechende Streifen entstanden. „Ich will ein bißchen notwendigen Erdkunde-Unterricht geben. Heutzutage weiß doch jeder Bundesbürger mehr über den Kongo als über die Zustände in der DDR.“, ließ sich Tremper im Pressematerial zu „Flucht nach Berlin“ zitieren.
Weshalb kaum derartige Filme produziert worden waren, konnte er dann erleben: Trotz interessierter, wohlwollender, teils auch begeisterter Kritiken (neben einigen Verrissen) wurde der Film kein Erfolg im Inland – wobei der Constantin-Verleih ihn auch nicht allzu pfleglich behandelt, sondern nur als Lückenbüßer eingekauft haben soll. Allein schon Berlin galt damals als Kassengift, denn Berlin war deutsche Teilung und Dauerkrise, und mit der wollten die meisten Zuschauer nicht auch noch in Spielfilmform behelligt werden. Und schon gar nicht wollten die DDR-Flüchtlinge so etwas sehen – Tremper hatte in ihnen mehrere Millionen potentielle Zuschauer gesehen. Im Ausland soll „Flucht nach Berlin“ hingegen recht erfolgreich gewesen sein, den größten Publikumszuspruch erhielt der Film, wie Tremper erzählte, in Tokio.
Filmhistorisch ist der Streifen fraglos bedeutend als einer der allerersten „Jungen deutschen Filme“ der Sixties – und Tremper war, als er ihn im Sommer 1960 zu drehen begann, ja selbst noch jung: 31 Jahre alt. „Flucht nach Berlin“ besitzt – wie später „Die endlose Nacht“ und „Playgirl“ – alle wesentlichen Merkmale eines Produkts der damaligen weltweiten Erneuerungsbewegung des Kinos, deren bekannteste nationale Ausprägung die „Nouvelle Vague“ wurde: Ein aktuelles Thema, das den Schöpfer des Films persönlich interessiert, Wirklichkeitsnähe, spontane, oft improvisierte Arbeit, eine Produktion mit wenig Geld und geringem Aufwand, Dreharbeiten außerhalb von Ateliers, oft auch an Originalschauplätzen, mit „neuen Gesichtern“, auch Laien – und nicht zuletzt war Tremper ein echter „Auteur“, der den Filmen seinen Stempel aufdrückte, eine persönliche Handschrift zeigte, die nicht zuletzt immer wieder den Journalisten verriet, und zwar den, der für Massenblätter schrieb. Ein Filmenthusiast, der gern mehrere Aufgaben gleichzeitig übernahm: Regie, Buch, Produktion, auch Schnitt, Verleih oder – ungenannt wie eben hier – die Kameraführung. Was Theodor Kotulla in seiner Besprechung von „Flucht nach Berlin“ in der Zeitschrift „Filmkritik“ (Nr. 4/1961) bemerkte, war ebenso garstig wie treffend: „Dieser Tremper ist ein Autodidakt wie die Vertreter der ‚Nouvelle Vague’, nur hat er nicht, wie diese, in der Cinémathèque gesessen, sondern im Kintopp an der Ecke.“
Christian Doermer erhielt für seine Rolle 1961 einen Bundesfilmpreis als bester Nachwuchsdarsteller, ebenso wurde Peter Thomas ausgezeichnet, der damals gerade am Beginn seiner großen Karriere als Film- und Fernsehkomponist stand und für Tremper auch bei „Die endlose Nacht“ und „Playgirl“ arbeitete, sowie die Musik zu dem von Tremper geschriebenen Film „Verspätung in Marienborn“ schrieb. Noch eine Fußnote zu dem jazzigen Scatgesang, der die Szenen auf dem West-Berliner Boot begleitet: Er stammt von Nina Westen, eigentlich Ingrid Werner, die ihre Karriere leider schon um 1970 beendete und zu ihrem Künstlernamen gekommen sein soll, weil es damals ein Sternchen namens Nana Osten gab – das übrigens mehrmals zwischen West und Ost hin- und herwechselte. Also setzte man Nana Osten Nina Westen entgegen.
Die Darstellung des Treibens auf dem Boot brachte Tremper dann Ärger ein – er erzählte mir: „Das hat man mir in Bonn fürchterlich übelgenommen, das sei ein Schlag ins Gesicht der Freiheit und so.“ Das dort spielende ursprüngliche Ende des Films wurde eben vom Verleih, ohne Trempers Wissen, entfernt. In „Große Klappe“ schrieb Tremper zu den Szenen, daß er damit „das bizarre Nebeneinander der beiden Welten und die Abgedroschenheit hurtiger westlicher Parolen akzentuieren wollte.“...
J.G.
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Quellen der filmographischen Angaben: Filmformat, Filmlänge, Erstverleih: http://www.filmportal.de/film/flucht-nach-berlin_c62d8aa6c79d4777b5468f395cb5fc73, besucht am 19.1.2015). Synchronstimme von Narciss Sokatscheff: Will Tremper: Große Klappe, Berlin 1998, S. 14. Alle anderen Angaben: Originalvorspann (auf der DVD ohne die Position Schnittassistenz).
Bilder: moviemax GmbH.
Rarität des Monats Januar 2015
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Vom 8.-14. Januar 2015 um 18 Uhr (am 12. Januar in Anwesenheit von Helga Reidemeister) lief
DrehOrt Berlin
BRD 1986/1987 – 113 Min. (3100 m) – 35 mm (1:1,33) – Farbe
Regie: Helga Reidemeister. Musik: Andi Brauer. Kamera: Lars-Peter Barthel. Kameraassistenz: Régis N. Bonvillain, Judith Kaufmann. Ton: Katharina Rosa. Schnitt: Dörte Völz. Schnittassistenz: Susanne Peuscher. Ton-Schnitt: Clarissa Ambach. Negativ-Schnitt: Elke Granke. Mischung: Hans-Dieter Schwarz. Trick: Herbert Schramm, Thomas Wilk. Dank für Mitarbeit: Margit Eschenbach, Johann Feindt, Amelie Glienke, Bernd Holtfreter, Jürgen Holtfreter, Ernst Johnsdorf, Marion Kaiser, Jutta von Kemnitz, Heide Kortwich, Gunther Kortwich, Rita Leska, Sabine Ludwig, Gabi Niemeyer, Robert Paris, Rosa Reidemeister. Filmgeschäftsführung: Jörg Giencke. Aufnahmeleitung Berlin (DDR): Konstantin Münz.
Eine Produktion der Journal Film Klaus Volkenborn KG in Co-Produktion mit dem Sender Freies Berlin und dem Westdeutschen Rundfunk. Produktionsleitung: Thomas Dierks. Redaktion: Christa Vogel, Alexander Wesemann. Produzent: Klaus Volkenborn.
Mit Mathilde Schulze, Anni Biskup, Waltraut Klätke, Wolfgang Klätke, Irene Bruder, Leopold Reidemeister, Andreas Scheel, Alex Harb, Lorenz Weber, Sissi, Jürgen Eger, Hans Möritz.
Erstverleih: Basis.
Projektion einer 35-mm-Kinofilm-Kopie.
Ost oder West? – Mancher Kritiker zeigte sich über „DrehOrt Berlin“ irritiert: Gut ein Dutzend Menschen läßt Helga Reidemeister in ihrem Dokumentarfilm, der auf der Berlinale 1987 uraufgeführt wurde, zu Wort kommen – doch bei vielen ist nicht sogleich klar, in welchem Teil der damals noch durch die Mauer zerrissenen Stadt sie leben. Und von oben, in den zahlreichen Panoramabildern, die von Hügeln und hohen Gebäuden gemacht wurden, erschien Berlin – dieser Dreh- und Angelpunkt nationaler wie internationaler Geschichte, an dem die Teilung der Welt so deutlich wurde, wie kaum irgendwo sonst – ohnehin als eine einzige Stadt.
Immer wieder taucht in den Interviews mit Berlinern auf beiden Seiten der Mauer über Lebenserfahrungen, die Gegenwart und ein klein wenig auch Zukunftshoffnungen die Frage nach der Freiheit auf – dem im Kalten Krieg vom Westen so gern beschworenen Begriff –, und was man darunter versteht. Die aus verschiedenen Gesellschaftsschichten stammenden Gesprächspartner werden nicht vorgestellt und erscheinen so als soziale Archetypen, zumal einige von ihnen teils gewagte Ansichten vertreten. Bis auf ein paar einführende Worte enthält sich Helga Reidemeister eines gesprochenen Kommentars. Aber man darf wohl vermuten, daß sich ihr Standpunkt widerspiegelt darin, wieviel Raum sie den unterschiedlichen Meinungen in ihrem Film einräumt: Von Mißständen im Westen und den bösen Amis, „die uns nicht aus ihren Klauen lassen werden“, ist relativ viel die Rede. Von Problemen im Osten eher am Rand. Und sind nicht die Russen sehr friedfertig und freundlich? Und alle, die ihnen mißtrauen, irgendwie zurückgeblieben?
Man mag in „DrehOrt Berlin“ eine allzu unkritische Haltung gegenüber der DDR erkennen, wie sie für West-Linke typisch war. Doch was als Indifferenz erscheint, kann auch als Subversion verstanden werden: 1987 war es noch frech, sogar gewagt (gerade in sich progressiv wähnenden Kreisen), Berlin so als Einheit zu betrachten und darzustellen, wie es hier geschieht. Helga Reidemeister beschwört Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West und erinnert an ein vereintes Berlin. Es entstand ein – erst recht mehr als 25 Jahre später – interessantes Dokument historischer Ansichten einer Stadt und Ansichten aus einer Stadt.
Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Weitere Informationen hier.
Bitte beachten Sie auch die weiteren Veranstaltungen zum 75. Geburtstag von Helga Reidemeister: Am 18. Januar 2015 um 16 Uhr in der Akademie der Künste (Hanseatenweg) die Premiere von Helga Reidemeisters neuestem Film „Splitter Afghanistan“. Am 26. Januar 2015 um 19 Uhr im Arsenal, ebenfalls in Anwesenheit der Regisseurin, die Vorstellung der digitalrestaurierten, unzensierten Fassung ihres wichtigen Werks „Von wegen ‚Schicksal’“ von 1979. Eine umfassende Helga-Reidemeister-Retrospektive bietet das Bundesplatz-Kino an allen Sonntagen im Februar und März jeweils um 15.30 Uhr.
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J.G.
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Quellen der filmographischen Angaben: Filmformat, Filmlänge, Erstverleih: http://www.filmportal.de/film/drehort-berlin_f5e7ad12abbb43a896c15c3fc9181f68, besucht am 18.12.2014). Alle anderen Angaben: Originalabspann.
Bilder: Basis-Film.