Berlin-Film-Katalog (in Vorbereitung)

Rarität des Monats Januar 2018

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Vom 8.-10. Januar 2018 um 18 Uhr (am 8. in Anwesenheit von Lutz Rathenow und Harald Hauswald) lief

 

Zärtlich kreist die Faust
Filmtagebuch mit Lutz Rathenow, Schriftsteller, Ostberlin

BRD 1990 – 68 Min. – 16 mm (1:1,33) – Farbe
Ein Film von Hilde Bechert und Klaus Dexel. Kamera: Claus Langer, Hermann Sowieja. Ton: Heinz Speckmeyer. Tonmischung: Alfred Lohmaier. Schnitt: Carin Rausch. Sprecherin: Edeltraud Schlaugiess. Bildtechnik: Joachim Langhans. Redaktion: Manfred Naegele.
Eine Bechert & Dexel Produktion im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart.

Drehzeit: 27. Januar bis 18. Februar 1990.

Erstsendung: 5. Juni 1990, Erstes Deutsches Fernsehen.

 

„Plötzlich wurde mir klar, daß der Fernsehturm immer noch steht. Was hat er jetzt noch für einen Sinn?“

Gedanken wie diesen notierte Lutz Rathenow für dieses Filmtagebuch, das zwischen dem 27. Januar und dem 18. Februar 1990 entstand, in der bewegten Zeit zwischen dem Sturz der SED-Diktatur und den ersten freien Wahlen in der DDR. In den Jahren zuvor hatte der 1952 geborene Schriftsteller zu den prominentesten systemkritischen Autoren gehört. Allen Repressalien zum Trotz und obwohl er nur im Westen veröffentlichen konnte, hatte er sich geweigert, die DDR zu verlassen.

Hilde Bechert und Klaus Dexel begleiteten Rathenow rund drei Wochen lang durch seinen Alltag in Ost-Berlin (in dem sich, wie für jeden DDR-Bürger gerade viel verändert hatte, aber auch manches gleich geblieben war – etwa der Ärger mit der Post), auf seiner ersten Reise in den Westen und nach Jena, in die Stadt seiner Geburt, Kindheit und Jugend. Dort nimmt Rathenow die Entschuldigung für seine Relegierung von der Uni entgegen, die 1977 aus politischen Gründen erfolgt war, und besucht die örtliche Stasi-Zentrale, in der er einst inhaftiert war und die nun von seinen Freunden besetzt ist (seit 2011 ist Rathenow sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen).

Die Filmemacher enthalten sich eines verbalen Kommentars, sondern ergänzen ebenso einfühlsam wie sinnfällig Lutz Rathenows meist aus dem Off vorgetragene Beobachtungen, Gedanken, Notizen zur sich beständig ändernden Lage in der DDR und insbesondere im Berlin der offenen Grenze sowie zu den Folgen für die eigene Situation: Ohne jedes Triumphgeheul, aber auch ohne das Hadern vieler Linker mit dem Lauf der Geschichte, sich deutlich befreit fühlend, aber noch immer kritisch-distanziert. Dabei gibt es natürlich viel vom damaligen Ostteil der Stadt zu sehen, das heute ganz anders ausschaut: Prenzlauer Berg mit seinen heruntergekommenen Häusern, den U-Bahnhof Alexanderplatz mit seinen originalen Fliesen, die schwer ramponierte Oberbaumbrücke mit dem Kontrollpunkt, den Jüdischen Friedhof Weißensee, den alten Bahnhof Ostkreuz, den „Langen Jammer“ am S-Bahnhof Storkower Straße (noch vollständig, unbeschmiert und mit intakten Scheiben) und natürlich die Mauer, teils noch da, teils bereits im Verschwinden begriffen.

Entstanden ist (mit dem Titel eines Gedichtbands Rathenows) ein ruhiges, ganz unaufgeregtes Dokument der aufregenden Zeit vor genau achtundzwanzig Jahren, das leider nur selten zu sehen war und daher in Vergessenheit geraten ist. Die „Berliner Morgenpost“ vom 3. Juni 1990 zitierte Hilde Bechert: „Wir wollten eine Dokumentation über das Entstehen literarischer Texte in einer außergewöhnlichen Situation schaffen.“ Und die „Stuttgarter Zeitung“ vom 7. Juni 1990 befand über das Ergebnis: „Einer der besten Hintergrundfilme zur Lage in der DDR.“

Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.

 

Der ARD-Pressedienst zur Erstausstrahlung

Wie erlebt ein Schriftsteller sein „Nochland“, die DDR, im Umbruch? Das Filmtagebuch mit Lutz Rathenow (Ostberlin) will in einer außerordentlichen historischen Situation das Entstehen von literarischen Texten miterleben lassen: Im Spannungsfeld zwischen Bildern und Worten visualisiert der Film eine Chronik als Zeitzeugnis über den Tag hinaus – ein filmisches Tagebuch.

Lutz Rathenow, Jahrgang 1952, hat bisher nur in der Bundesrepublik veröffentlicht (zwei Lyrikbände, zum Beispiel „Zärtlich kreist die Faust“, dazu „Ostberlin – die andere Seite einer Stadt“).

Zitat: „Erst in diesen unruhigen Zeiten merke ich, daß ich kein politischer Schriftsteller bin. Ein politisch interessierter Mensch, der sich enthusiastisch nörgelnd einmischt. Auch die Ränder der Literatur dazu nutzend (Aufsatz, Polemik, Glosse). Die Gedichte hingegen werden stiller oder schrill rätselhaft.“

Das Filmtagebuch beginnt am 27. Januar 1990 mit der ersten Grenzüberschreitung Lutz Rathenows nach der Revolution im Herbst des vergangenen Jahres: Sein erster öffentlicher Auftritt in der BRD mit Poetik-Vorlesungen an der Universität Bamberg.

Sein privater und öffentlicher DDR-Alltag wird fortgeschrieben bis zum 18. Februar 1990: Reflektionen über die Geschwindigkeit und Veränderbarkeit von Nachrichten, Schauplätzen, Verhaltensweisen, die Überprüfung alter und neuer Texte in Lyrik und Prosa, der Verlust des Konspirativen als Motor des Überlebens, das Wegfallen der Zensur als prägendes Stilmittel? Auch neue Perspektiven für jüngere Arbeiten: „Ostberlin – die andere Seite einer Stadt“ – ist dieser Text-Fotoband überholt, ist er eine Zwischenbilanz, Historie? Interessierte Verlage wollen mit einer revidierten Neuauflage warten, da man nicht wisse, ob bis zum Erscheinen Ostberlin überhaupt noch existiere. Vorläufige Dokumente in Worten und Bildern allerorten. Auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, nach Jena, DDR-Provinz: Ort der Kindheit und Jugend, der ersten literarischen Öffentlichkeit, der ersten Verhaftung. Tage im Tagebuch: Die Universität Jena entschuldigt sich für den Rausschmiß aus politischen Gründen vor zwölf Jahren. Jetzt soll der Rehabilitierte Vorlesungen halten. Besuch in der Zentrale der Stasi. Freunde haben die Räume besetzt.

Zitat: „Die Splitter einer Diktatur schmerzen noch lange unter deiner Haut.“ Ein Staat in Auflösung – „so was erlebt man nicht alle Tage“ –, wieder in Berlin die Zeichen dafür hörbar und sichtbar machen. Am 16. Februar 1990 findet nach 13 Jahren die erste öffentliche Lesung von Lutz Rathenow und Jürgen Fuchs in Ostberlin statt. – Ein Filmtagebuch mit open-end: „... zwischen Ordnung und Chaos, – weiterschreiben.“

 

ARD-Pressedienst 23/1990

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Quellen der filmographischen Angaben: ARD-Pressedienst 23/1990 (Erstausstrahlung), Originalabspann, Produktionsfirma (alle anderen Angaben).

Bilder: Bechert & Dexel Filmproduktion/Klaus Dexel TV-Filmproduktion.